Regine Nahrwold am 17. April 2021
Im Atelier: Brigitte Weihmüller
CORONA-TAGEBUCH vom 30. März 2020, Tusche auf Papier, (Foto: B. Weihmüller)
Üppig wuchernde Pflanzen schießen ihre spitzen Blätter durch das nächtliche Dunkel wie Sterne ihre Strahlen, Blumen explodieren wie Feuerwerkskörper. Mit solchen Einblicken in ihren inneren Garten begann Brigitte Weihmüller im Frühjahr 2020 ihr Corona-Tagebuch. Seite um Seite füllten sich im Laufe eines Jahres zwei große Skizzenbücher mit traumartigen Szenarien, reduziert auf das Schwarzweiß von Tuschezeichnungen und eine einfache Formensprache. Der Schwarzweiß-Kontrast half der Künstlerin das Unfassbare der Lage durch den Einbruch der Pandemie ins alltägliche Leben zu strukturieren, das Malen mit Pinsel und Tusche wurde ein Kraftquell, um innere Klarheit zu gewinnen. Das Thema „innerer Garten“ war eine erste Setzung, von da aus entwickelte sich die Serie frei weiter. Bald begannen Fische die Pflanzen zu umspielen, Springbrunnen, Segelboote, Häuser kamen hinzu, der Garten wurde eine südliche Reise und öffnete sich für die Außenwelt. Männer und Frauen traten ein und mit ihnen das Thema zwischenmenschlicher Beziehungen. Reich gedeckte Tische erschienen vor einem Ausblick aufs Meer, Innenräume und das neue Symbol der Treppe. Am Ende des zweiten Bandes, im Januar 2021, markiert dann eine mosaikartige Collage aus fotografischem Material das Ende der Tuschzeichnungsfolge. „Ich hatte den starken Wunsch, nun wieder mit Farbe zu arbeiten“, so Brigitte Weihmüller.
CORONA-TAGEBUCH, Tusche auf Papier (Foto: B. Weihmüller)
Zwischen den Polen Schwarzweiß und Farbe bewegt sich das Werk der vielseitigen Künstlerin, ebenso in der Spanne zwischen Realität und Abstraktion. Brigitte Weihmüller (geb. 1964 in München) hat an den Kunsthochschulen in Karlsruhe (bei Erwin Gross) und Braunschweig (bei Norbert Tadeusz) freie Malerei studiert. Die Farbe ist also ihr eigentliches Element, doch immer mal wieder taucht sie auch in die Malerei mit schwarzer Tusche ab, so 2008 in einer Serie zu den Haikus des japanischen Dichters Matsuo Basho (1644-1694), 2011 in einer Reihe von Minotaurus-Bildern und nun im Corona-Tagebuch. Die Figuren, Pflanzen und Dinge ihrer Malerei und Pinselzeichnungen sind stark stilisiert und abstrahiert. In die ganze Fülle der Wirklichkeit begibt sich die Künstlerin – auch Fotografie war Teil ihres Studiums – mit der Kamera. Auf Reisen nach Malta, in die nördliche Ägäis oder in die Türkei entstanden Landschaften und Städtebilder.
LUC DEGLA Schriftsteller, Dibbesdorf, 2015
Besonders viel bedeutet Brigitte Weihmüller eine Folge von Portraits, die sie 2015 bis 2019 geschaffen hat. Mehr als 35 Personen hat sie fotografiert, ihnen die Frage gestellt: „Was ist das Wichtigste in Deinem/Ihrem Leben?“ und die Fotografien mit den Antworten ausgestellt und auf ihrer Homepage veröffentlicht. Bei der Auswahl der Darzustellenden kam es der Fotografin nicht auf Prominenz an, vielmehr sind es allesamt Menschen, die die Welt bereichern oder sie ein Stück weit besser machen wollen. Als gleichbleibende Parameter der Portraits legte sie fest:
Gesicht oder Brustbild im quadratischen Format, das alle gleichberechtigt nebeneinander erscheinen lässt; das Foto wird nicht bearbeitet. Für den Hintergrund durfte jede und jeder sich einen persönlich wichtigen Ort aussuchen, an dem sie und er sich besonders wohl fühlt. Das Shooting erfolgte möglichst bei einem gemeinsamen Spaziergang, bei dem man ins Gespräch kam und sich Vertrauen sowie eine Lockerheit entwickelte, die den Aufnahmen als Natürlichkeit zugute kam. Das Endergebnis beschreibt Weihmüller selbst als Zusammenwirken von Kamera, Atmosphäre und – zur guten Hälfte – Licht. Sehr sensible Bildnisse von einer feinen, unaufdringlichen Intensität sind da entstanden, die respektvoll die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Individuen vor Augen führen.
ILONA MUSCHALLA Yoga-Lehrerin, Riddagshausen 2019
Doch immer wichtiger wird für Brigitte Weihmüller in der letzten Zeit ihr drittes Medium: die Glaskunst. Vor dem Studium absolvierte sie ein Praktikum bei der Mayer’schen Hofkunstanstalt in München, und seit 2013 entstehen immer wieder Glasarbeiten für Hospize, Abschiedsräume und Kapellen. 2009 musste sie selbst Abschied nehmen von ihrer Schwester, die auf einer Palliativstation gestorben war. Eine Stunde lang saß sie am Totenbett, und da war nichts, wo ihr Auge mal hätte länger verweilen und ausruhen können. Da entstand der Wunsch, solche Ruhepunkte, die die Seele stärken, für Hospizgäste und ihre Angehörigen zu schaffen – aus farbigem Glas. Denn das durchlässige, durchsichtige Glas schafft einen Übergang, zeigt den Weg ins Licht, kann auf Transzendenz verweisen und so einen Impuls für die Hoffnung geben, dass es weitergeht. Dieses „weiter“ kann ein Leben nach dem Tod sein, aber auch die Annahme des Todes oder eine Versöhnung, die noch aussteht; es ist offen für ganz individuelle Vorstellungen und Ideen. Dementsprechend sind die Glasarbeiten – Fenster, Lichtsegel oder Lichtengel – durch abstrakte Formen gestaltet, die die Vorstellungskraft nicht einengen. Die Künstlerin legt Wert darauf, dass sie in einem Raum eine besondere Atmosphäre schaffen, eine Offenheit, in der es nicht ums Denken geht, sondern um das Wahrnehmen, ums Geschehenlassen. Hier spielen Licht und Farbe die Hauptrolle. Für Brigitte Weihmüller ist es jedes Mal eine Freude, einen harmonischen Klang von genau aufeinander abgestimmten Farben zu schaffen – eine große Herausforderung, denn dieser Klang muss bei den verschiedensten Wetter- und Lichtverhältnissen stimmen. „Ich habe einmal eine Glasarbeit von mir bei einem Gewitter erlebt“, erzählt sie, „und war freudig überrascht, dass da bei aller Dunkelheit immer noch ein leises Licht zu sehen waren“.
LICHT-SEGEL im Raum der Stille im Hospiz Wolfsburg, 2013
Glasobjekt (Foto: B. Weihmüller)
Den Bereich der Glaskunst will sie weiter ausbauen und ausdehnen auf „Situationen, in denen man sich existentielle Fragen stellt“. Ein zweites Standbein hat sie sich als Qigong-Lehrerin geschaffen, es gewährt ihr viel Freiheit und lässt sich gut mit der Kunst vereinbaren. Wie beides zusammengeht, beschreibt die Künstlerin selbst:
„Besonders faszinierend finde ich, dass wir beim Qigong vertraute Verhaltensweisen hinter uns lassen. Wir üben uns darin, Leistungsdruck, Perfektionsansprüche, Vergleiche mit anderen und jegliche Form des Bewertens loszulassen. Dies erfordert Mut und ein Offensein für einen neuen Weg. Es beginnt eine Hinwendung zu uns selbst: zu unserer inneren Stimme, zu einem inneren Frieden. Ein Weg, der uns innere Freiräume eröffnet und neue Sichtweisen entdecken lässt. Diese Erfahrung hilft mir beim künstlerischen Arbeiten: Die ablenkenden Gedanken verlieren an Präsenz und das Loslassen von Erwartungen wirkt befreiend. Dies ermöglicht ein Offensein für das, was kommt. Ein Geschehenlassen. Und Neues kann entstehen.“