Regine Nahrwold am 3. November 2015
Literaturnacht: Feridun Zaimoglu
Lange Nacht der Literatur im Staatstheater Braunschweig am 1. November 2015:
Feridun Zaimoglu und Hubert Winkels gehen um 21.20 Uhr bei Wein statt Wasser zum legéren Teil des Abends über. Die erste Frage an den Schriftsteller, der, so Winkels, zu den wichtigsten Künstlern türkischen Ursprungs gehört, die Markierungen im deutschen Kulturleben setzen: „Wie schätzen Sie die Lage in der Türkei ein?“ Zaimoglu: „Ich kann nur als gut unterrichteter Tourist Auskunft geben. Die Lage ist das Ergebnis einer langen Entwicklung. In ihr spielen anatolische Frömmigkeit, die dem Land nicht gut tut, Grobianismus, Korruption und Lügen, die bis zur Staatsgründung zurückgehen und die Leugnung des Völkermords an den Armeniern einschließen, eine wichtige Rolle. Mit diesen Lügen und der osmanischen Gewaltkultur hat das Land bis heute nicht gebrochen.“
Foto: Thomas Blume
Zaimoglus Roman „Siebentürmeviertel“ spielt zwischen 1939 und 1945 in eben jenem Stadtteil Istanbuls, wohin der deutsche Junge Wolf vor den Nazis geflohen ist. Zaimoglu zoomt sogleich dicht an die archaische Welt des Siebentürmeviertels heran und zeigt sie dem Leser durch die Augen des Jungen. Was er erblickt, ist eine abergläubische menschliche Gemeinschaft, die trotz moderner Dogmen an alten Traditionen festhält; eine Welt der Gerüchte, Geflüster, Anrufungen und Beschwörungen. Doch es gibt auch das moderne, mondäne Istanbul, und an der Schwelle zwischen beiden Welten erscheint die Figur eines Dichter, dessen Langpoem mit dem Titel „Der Abend der Kinder, die Pfauenlaute ausstoßen“ der Autor vorlas. Doch was heißt hier „vorlas“? Fast schon Gesang war sein musikalisch-rhythmisches Sprechen, das er mit Handbewegungen „dirigierte“, ein bestürzender, nicht enden wollender Sprachrausch! Sich diesem zu ergeben war für Zaimoglu offenbar eine vollkommen neue Erfahrung: „Die Frage war: Wie konnte ich dem Verschwundenen dieser fremden Stadt Gestalt geben? Ich musste mit dem mir Selbstverständlichen brechen, meine Pseudoklugheit aufgeben und allein auf die Kraft der Worte vertrauen. Irrsinn, mehr denn je!“ Und so freut er sich darüber, dass Winkels den ganzen Roman als Langgedicht ansieht. Küchenmeisters Lyrik könnte man prosaische Poesie nennen – Zaimoglus Erzählung ist poetische Prosa.
Foto: Thomas Blume