Regine Nahrwold am 11. November 2008
22. Internationales Filmfest Braunschweig: „Europa“ für Bruno Ganz
Der jüngste Preis des Braunschweiger Filmfests, die „Europa“ für den/die beste/n europäischen Schauspieler/in, wurde letztes Jahr das erste Mal vergeben, und zwar an Hannah Schygulla. Was war das doch noch für eine schöne und richtig nette Veranstaltung! Dieses Jahr gab’s mit dem Umzug der Gala ins Große Haus des Staatstheaters zugleich ein – in meinen Augen ziemlich fragwürdiges – „Upgrade“, denn mit dem neuen Format schwappte dieses Jahr viel Unsägliches aus dem TV in das Festival hinein:
oberflächliches Moderatorengeschwätz, lautbunte Kleinsthäppchen, die auf einer Riesenleinwand rumschwirrten und von den Reden ablenkten, Selbstdarstellungen von Leuten, die m.E. im Hintergrund besser aufgehoben sind, eine hastig abgespulte Laudatio und Ähnliches. War das alles wirklich nötig, zumal nach Reich-Ranickis befreiendem Ausbruch von neulich? Vielleicht sind dies ja unumgängliche Konzessionen an die Sponsoren, und ich gehöre einer verschwindenden Minderheit an, aber ich finde es absolut überflüssig! Ich glaube auch, dass es – nicht nur hinsichtlich der Besucherzahlen – Grenzen des Wachstums gibt, und dass man gut daran tut, die zu klären und zu akzeptieren, sonst geht’s irgendwann an die Substanz. Umso mehr freut mich die vom Festivalleiter Volker Kufahl kolportierte Äußerung eines prominenten Gastes, der am Braunschweiger Filmfest am meisten schätzt, dass hier noch die Filme selbst im Mittelpunkt stehen. Das finde ich auch, dafür bin ich allen, wirklich allen Beteiligten sehr dankbar – ich hoffe, das bleibt auch so!
Dieses Jahr ging die von der Braunschweiger Bildhauerin Sabine Hoppe gestaltete Trophäe an Bruno Ganz. Wie mag ihn der ganze Bohei genervt haben? Er ertrug ihn und die Vergabe der anderen drei Preise (Leo, Kinema, Heinrich) jedenfalls mit Fassung und Geduld. Als dann endlich die Reihe an ihm war, sagte er zunächst, er hoffe, um 22 Uhr in seinem Hotel zu sein, denn er wolle unbedingt die Kommissarin Lund im Fernsehen anschauen! Seine Rede widmete er – sichtlich bewegt – einem aus Braunschweig stammenden Freund aus seiner Anfangszeit in Göttingen, wo er am Deutschen Theater sein erstes Engagement hatte. Er sei damals so schüchtern gewesen, dass seine Theaterkarriere sicher nach 14 Tagen beendet gewesen sei, hätte dieser Freund ihn nicht unterstützt und ermutigt. Er bedankte sich natürlich „to whom it may concern“ und, als eingefleischter Fußgänger, auch bei „dieser Autofabrik“. (Hauptsponsor des Festivals sowie Stifter von „Europa“ und „Heinrich“ sind die Volkswagen Financial Services). Das Preisgeld wolle er an „Ärzte ohne Grenzen“ weiterleiten.
Unmittelbar vor der Gala hatte ich Behind Me, den Dokumentarfilm von Norbert Wiedmer über Bruno Ganz gesehen. Das Portrait legt die Betonung ganz auf die musikalische Seite dieses Schauspielers (den man zuletzt in einer brillanten Nebenrolle als klugen, sensiblen BKA-Chef Horst Herold in RAF-Film von Uli Edel im Kino sehen konnte). Über weite Strecken des Films lauscht man seiner weichen, dunklen, klangvollen Stimme, die Sprache strömen lässt, ein an- und abschwellender Fluss, der bald murmelt, bald rieselt, bald rauscht, und aus dem hie und da einzelne Konsonanten, Silben, Worte herausragen wie Steine… Man erlebt ihn als Rezitator unter Daniele Abbado bei einem Konzert, in das von Handwerkern erzeugte Klänge integriert sind, z.B. das Festklopfen von Kopfsteinpflaster, Schleifen und Schweißen, das Anrühren von Teig oder das Verstreichen von Mörtel auf einer Lage Ziegel – welch eine Musik!!! (Es handelt sich übrigens um eine Aufführung von „opera di musica immaginistica“ von Giorgio Battistelli bei den Salzburger Festspielen von 1999.)
Einen Großteil des Films nimmt die Probenarbeit zu Peter Steins Faust-Inszenierung ein und Ganz` Ringen mit diesem Text. (In einem Interview sagt er dann, dass er, je länger er den Faust spielt, umso weniger diesen Text versteht, und ihm die Gestalt des Faust immer fremder wird; obwohl die meisten Menschen in ihm den Faust schlechthin sähen, habe diese Figur nichts mit ihm zu tun, irgendetwas stimme da nicht.) Immer wieder sieht – und hört! – man Ganz in diesem Filmportrait bei Rundfunkaufnahmen zu T. S. Eliots „Das wüste Land“. Vom Interviewer gefragt, ob er dieses rätselhafte Gedicht verstehe, gibt er die wunderbare Antwort, dass es ein Verstehen von Lyrik jenseits des Verstandes und der Rationalität gebe, ein dunkles Ahnen von Sinn, das aus ihren Klängen und Rhythmen, aus ihrer Musik, aus den Gefühlen komme. Zu Hölderlins Zeiten habe man die Dichter „Sänger“ genannt, und so ein Sänger wolle er gern sein.